Es wird wieder lukullisch… wenn vielleicht auch nicht unbedingt lecker: Sven und Cornelis erkunden einen großen Supermarkt in Venlo in den Niederlanden und kaufen alles, was anders, absurd, seltsam oder generell fremd erscheint. Neophiles Einkaufen galore.
Links zur Folge
- Startpunkt bei Google Maps
- Tref Center
- Albert Heijn
- Psychology of Supermarket
- Wikipedia: Joppiesauce
- Wikipedia: Assietten
- Jordans Country Crisp
- Wikipedia: Vla
- Wiki: Chocomel
- Cellartracker: 2008 Campo Viejo Rioja Crianza
- Wikipedia: Bag in a box
Pingback: Die letzten und nächsten 24h, Freitag, 27.03.2015 | die Hörsuppe
Die Idee der Folge finde ich großartig.
Der positiven Eindruck, den Ihr vom holländischen Supermarkt vermittelt, lässt mich hier aber total wahnsinnig werden. Hier also eine Gegendarstellung von mir.
Wenn man den holländischen Supermarkt als ein riesiges Süßwarenregal versteht, kann ich nachvollziehen, dass er interessant wirkt. Euer Ziel war es ja auch, nur irgendwelchen Junk zu kaufen. Das geht dort sicher wunderbar. Wenn man sich aber mal wochenlang von so einem Supermarkt ernähren muss, wird es ätzend!
In Deutschland erkenne ich einen Trend zu umweltbewussten, regionalen, natürlichen oder wie auch immer gesunden Produkten. In Holland gibt es das alles nicht. Während man in Deutschland hysterisch um Luft ringt, wenn irgendwo E-Irgendwas in den Zutaten auftaucht, sind diese Zusatzstoffe in Holland obligatorisch. Selbst Mehl besteht in Holland nicht aus Mehl sondern aus Mehl und E-Zusatzstoffen. Die 0,1l-Funsize-Getränkedosen habt ihr ja selbst gefunden: Meiner Meinung nach sehr vermeidbarer Sondermüll. Überhaupt ist in Holland fast alles in Plastik eingepackt. Selbst in den Frischeabteilungen stehen überall vorbefüllte Plastikeimerchen mit viel Plastik und wenig Inhalt.
In den letzten Jahren wurden die meisten Supermärkte in Deutschland mit eigenen Backshops im Shop ausgestattet. In Holland gibt es keine dedizidierten Bäckereien. Der Backshop im Supermarkt ist hier also schon längst Tradition. Die mangelnde Brotvielfalt außerhalb Deutschlands ist ja bekannt. Der Feierabendholländer mag sich daher vielleicht wundern, dass die üppige Brottheke im holländischen Supermarkt sogar „Vollkornbrot“ führt. Nach dem Auspacken stellt er dann aber fest, dass es sich um ein Weißbrot mit etwas Hühnerfutter oben drauf handelt, das so luftig ist, dass man es problemlos in so eine Funsize-Dose stopfen kann. Im holländischen Supermarkt findet man übrigens kein spezielles Toastbrot auch wenn man nach einer Konsistenzprüfung alles als Toastbrot bezeichnen müsste. Neben diesem immer gleichen, bloß anders dekorierten „frischen“, aber abgepackten Brot bietet dieser Backshop noch die traditionellen Süßgebäckspezialitäten. Das ist im Wesentlichen das widerliche Tompouce. Also Blätterteig, Pudding und oben drauf das widerlich süße rosa Zeug. Wenn die Elftal spielt gerne auch mal in orange. Eine wirkliche Spezialität ist vielleicht das Tigerbrot. Das ist aber haltbar und daher selten in der Auslage mit den „frischen“ Broten.
Ähnlich wie diese überflüssige Pseudobäckerei ist die Fleischtheke aufgebaut. Während die Brottheke Toastbrot in verschiedenen Farben anbietet, gibt es in der Fleischtheke Hackfleischvariationen. Einfallslose Vegetarier imitieren echtes Fleisch aus Tofu. Der Holländer imitiert echtes Fleisch aus Hack. Neben Hackwurst und Hackschnitzel kann man auch Hackfleisch als Hackfleisch kaufen. Nachgefärbt, extra „pittig“ und wenn man Glück hat auch „naturel“. Ja, manchmal wird auch Filet angeboten. Damit das zwischen dem ganzen Hack nicht unangenehm auffällt, wird das Filet schön fein püriert, aber nicht wieder zu einem Filet zusammengeformt sondern als Pampe schon am Vortag frisch in Plastik eingeschweißt. Sehr beliebt ist die traditionelle „Rookworst“: Auch in der Frischeabteilung ein Industrieprodukt mit allem, was der Alchemiekasten hergibt.
Generell merkt man schon in der traditionellen Niederländischen Küche, dass der Holländer dem Neuen sehr aufgeschlossen ist. Viele bekannte traditionelle Gerichte bestehen aus Industrieprodukten, die man im Haushalt ohne die passende Lebensmittelfabrik, traditionell nicht herstellen könnte: Bamischeibe, Bitterballen, Pfannekuchen mit Hagelslag, …
Das führt mich direkt zu zwei weiteren Gedanken. Bamischeibe, Bami und alles, was man hier so vom China-Imbiss kennt, ist in Holland Standard im Haushalt. Während der Deutsche in den 80ern seine Dosenravioli kaufte, griff man in Holland immer schon zum pfannenfertigen Bami-Goreng. Vielleicht liegen in der frühen Entdeckung der pseudochinesischen Küche schon die Wurzeln der größeren Akzeptanz der Holländer gegenüber Geschmacksverstärkern.
Der zweite Gedanke beschäftigt sich mit Pfannekuchen. Im Prinzip gibt es in jedem Supermarkt in Holland ein ganzes Regal mit Pfannekuchenzubehör. Also der ganze Streuselkram, der aber auch auf Brot gegessen wird und dann die Pfannekuchen als Zutatenpaket, fertig gemischt ohne Milch, mit Milch oder schon fertig gebacken. Das ist dem Holländer sehr wichtig!
Und noch ein dritter Gedanke: Der Holländer frittiert alles! Bamischeibe, Frikandel und Konsorten ist ja klar. Aber auch Sauerkraut findet man in Holland am ehesten frittierfertig. Also wie eine Bamischeibe. Nur mit Sauerkraut drin statt Bami.
Und noch zwei Besonderheiten: Im holländischen Supermarkt gibt es ein üppiges Angebot an Arzneimitteln. Die stehen einfach so zwischen Zeitschriften und Smarties rum und sind irre billig: Eine Packung Aspirin kostet unter 1€. Spirituosen bekommt man hingegen nicht im Supermarkt. In besseren Märkten gibt es hinter den Kassen einen abgetrennten Bereich dafür. In Deutschland kann also jedes Baby Vodka trinken, zumindest solange es damit nicht zur Kasse geht. In Holland muss es hingegen zum Novalgin greifen.
Einen hab‘ ich noch: In Deutschland kann man in machen Läden Ware, die bald über dem Mindesthaltbarkeitsdatum ist, verbilligt kaufen. In Holland hingegen kann man sogar Ware, die bereits über dem MHD ist, verbilligt kaufen. Selbst Geflügel!
Noch was zum Thema Alter: Alter Gouda muss in Deutschland eine gewisse Zeit gereift sein um ihn so deklarieren zu dürfen. In Holland kann man aber auch billigsten fertig geriebenen Käse als alten Gouda kaufen. Das ist dann aber kein alter oder mittelalter Gouda, wie wir ihn kennen, sondern er ist dann einfach nur alt.
Meine Meinung steht fest: Die schlechteste Küche kommt nicht aus England sondern aus Holland. Und daher sind auch die Supermärkte vielleicht ein buntes Wunderland für Kiffer auf einem Fressflash, aber nicht zur seriösen Lebensmittelbeschaffung geeignet.
Hallo Herr Frau Antje! Danke für diesen wirklich üppigen Kommentar. Das ist vermutlich der bisher längste und sicher auch einer der fundiertesten Kommentare, die wir hier bisher hatten!
Du hast recht dass wir total neophil geflashed durch den Laden gelaufen sind und einfach nur nach dem Absurdesten, was sich finden ließ, gegriffen haben. Das war natürlich Konzept und wird sich dann noch in dem sehr viel lustigeren zweiten Teil der Folge fortsetzen.
Ins Detail konnten oder wollten wir in der Zeit nicht schauen und wir haben da tatsächlich viel übersehen – Du hast hingegen ziemlich deutlich heraus gearbeitet, welche Unterschiede zwischen den Eß- und Lebensmittelkulturen bestehen, das finde ich sehr beeindruckend und öffnet die Augen. Mich würde mal interessieren, ob du zu den britischen Eßgewohnheiten auch auch so differenziertes Urteil geben kannst. Dort hatte ich mich ein bisschen länger mit den Details beschäftigt und fand, dass (zumindest in den besseren Supermärkten) Zusammensetzung und Qualiät ziemlich gut waren.
Was Holland betrifft, finde ich das progressive und für Veränderungen offene Wesen der Niederländer in vielen Bereichen doch ziemlich erfrischend. Vielleicht kannst du uns ja auch zu den kommenden Folgen (es wird noch drei zu den Niederlanden geben) differenzierte Rückmeldung geben?
Zumindest ist mir jetzt klar, warum der ursprüngliche Plan, für die Atmoaufnahmen der SE 100, die in kleinen netten Lebensmittelgeschäften stattfinden sollten, die Niederlande der falscheste Ort sind, den man so kriegen kann …
Auch von mir ein Dankeschön für diesen ausführlichen Kommentar. Ernährung und speziell das Einkaufen davon, ist ein Thema mit dem sich Bände füllen und vermutlich mehrere eigene Podcasts machen lassen. 😉
Unsere Folge war natürlich mehr auf den Spass und das „Fremde“ ausgelegt und extrem „seicht“ im Anspruch geplant, dennoch finde ich deine Ausführungen sehr spannend, weil du bei mir offene Türen einrennst. Ich lasse mich in Holland tatsächlich oft von den schönen großen Kühltheken mit dem geschnittenen Gemüse begeistern … und in der Folge erwähne ich ja auch explizit, dass wir jetzt mal „schlechte Inhaltsstoffe aussen vor lassen“ … dennoch weiß ich, dass z.B. speziell dieses geschnittene Gemüse tausende Stöffchen bestäubenderweise erfahren hat, damit es auch nach drei Tagen und 300km auf der Autobahn noch so lecker aussieht, dass ich drauf reinfalle! 😉
Das nächste Mal werde ich sicherlich mit etwas anderen Augen durch einen niederländischen Supermarkt gehen und über deine Anekdoten schmunzeln aber auch sinnieren. Danke für diese Bereicherung. 🙂